Skript zum Seminar "Autismus"
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Professor Rödler stellt zuerst die grundlegenden Fragen und
Sachverhalte vor, die er in diesem Seminar behandeln will.
- Was verstehen wir unter Autismus?
- Welche traditionellen Theorien gibt es?
- Welche weiterführenden Gedanken sind im Umlauf?
Welchen fachlichen Hintergrund hat Professor Rödler?
- Professor Rödler ist im Rahmen eines Praktikums während seines Studiums mit einem autistischen Mädchen in Kontakt gekommen. Anschließend Promotion zu diesem Thema. Theoretischer Hintergrund damals, Psychoanalytische Pädagogik (Leber) und Tätigkeitstheorie/Kulturhistorische Schule (Feuser). Seit dem zusätzlich Franz. Psychoanalyse (Lacan), Systemtheorie (Maturana) und Informationstheorie (Sievers)
Jeder Student soll sich überlegen, was er selbst über Autismus
weiß und weshalb er dieses Seminar besucht.
- Schubladendenken: Autisten ziehen sich in ihre eigene Welt
zurück.
- Was wissen wir vom Autismus?
- Autisten sind sehr verschieden. Zwei autistische Menschen können
vollkommen andere Verhaltensweisen zeigen
- Es gibt sehr viele verschiedene Gründe für Autismus. Eine Diagnose
ist sehr schwer.
- Es kann keine einheitliche Definition von Autismus
geben!
- Jeder Mensch ist sein Leben lang auf die Hilfe anderer
angewiesen, nicht nur geistig behinderte Menschen.
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Professor Rödler zeigt einen Film über Anna, ein 16-jähriges,
autistisches Mädchen. Fragestellung für den Film: Wie hängt das
Bild eines Menschen von seiner Darstellung ab? Wie wird Anna in
dem Film dargestellt? Wie macht Anna mit?
- Annas Anzeichen für Autismus (beschrieben durch ihre
Mutter): gestörte Sprache (sie spricht, aber nicht viel),
Empfindsamkeit bzw. Überempfindlichkeit im Wahrnehmungsbereich
(vor allem das Gehör)
- Anna hat angeblich Angst vor Klingeln bzw. vor einem
Gong. Diese Angst hatte ihre Mutter zuerst. Wurde ihr diese
Angst von der Mutter eingeredet? In (autistische) Kinder wird
von den Eltern viel hineinprojiziert.
- Anna setzt ihre Behinderung manchmal als Druckmittel ein
"Ich kann das nicht, ich bin doch behindert.".
- Die Sachen, die Anna kann, muss man, laut ihrer Mutter,
ständig mir ihr üben, damit sie sie nicht verlernt. Anna muss
also ständig angeleitet werden (z.B. rechnen lernen mit dem
Vater).
- Anna geht zur Schule. Dort wird sie unter Anleitung immer
wieder in neue Situationen geführt. Sie soll z.B. in
ein Geschäft gehen und etwas Bestimmtes einkaufen. Anna kann
sich in neuen Situationen nicht alleine zurechtfinden.
- Anna soll im Supermarkt etwas einkaufen. Anfangs macht sie es richtig, lässt
sich aber durch die Verkäuferin durcheinander bringen. Sie hat eigentlich Selbstvertrauen,
verliert es jedoch, sobald andere zeigen, dass sie ihr etwas nicht
zutrauen.
- Anna spricht in ihrem Zimmer mit sich selbst, hört aber
auf, sobald ihre Mutter herein kommt. Ihr Zimmer ist ihr
eigener, geschützter Bereich. So einen geschützten Bereich
braucht jeder Mensch.
- Anna mag das Fernsehen, sie kennt das Fernsehprogramm "auswendig".
Das Fernsehen fordert nichts von ihr, sie muss nicht aktiv handeln.
Sie kann das Fernsehen an- und wieder ausmachen, wann sie will. Auch nicht geistig
behinderte Menschen sehen genau deswegen gerne fern.
- Anna sagt, sie mag den Krieg bei Fackeln im Sturm.
Sie mag es, wenn andere Streit haben oder bestraft werden. Sie
selbst mag aber keinen Streit.
- Anna braucht feste Zeiten in ihrem Tagesablauf. Sie
fragt häufig nach Zeitpunkten.
- Anna kommt mit ihrer Umwelt im Allgemeinen gut klar. Nur
manchmal zieht sie sich in ihre eigene Welt zurück oder flippt
aus.
- Die Reporterin im Film hat das Gespräch durch ihre
Fragen sehr stark gelenkt und teilweise auch "dumme" Fragen
gestellt. Warum soll Anna etwas erklären können, das auch für
uns sehr schwer zu erklären wäre, z.B. warum man etwas mag
oder nicht mag.
- Wir fangen einen Ball automatisch. Anna muss den gesamten
Vorgang kontrolliert durchführen. Sie versucht komplexe Bewegungsabläufe bewusst
zu steuern.
- Anna geht instinktiv richtig mit einem kleinen Kind um.
- Anna macht Gleichgewichtsübungen. Sie soll die Welt aus
anderen Blickwinkeln kennen lernen. Sie ist jedoch sehr
verspannt. Der Therapeut behauptet, dass Anna Spaß an den
Übungen hat, was nicht stimmt. Er sollte einfach zugeben, dass
die Übungen notwendig sind, aber nicht behaupten, dass Anna sie
unbedingt machen will.
- Ein nicht behindertes Kind fragt man, was es haben will,
wenn es schreit. Und obwohl das Kind es uns nicht zeigen kann,
finden wir doch oft heraus, was es will. Man sieht kleinen Kindern nicht an, ob sie autistisch sind.
Bei einem behinderten Kind stellt die Mutter dieses Verhalten oft ein.
- Viele Mütter behandeln ihr Kind entweder übervorsichtig
oder sie ignorieren die Krankheit total - so erhält das Kind
keine Frühförderung.
- Nichtbehinderte Menschen glauben, behinderten Menschen alles abnehmen zu
müssen.
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- Autismus sollte als Verhaltensweise angesehen werden.
- Assberger Autisten sind die "besseren" Autisten
(z.B. der Autist aus dem Film "Rainman".
- Kardinalsymptome:
- extreme Änderungsangst (von Anfang an)
- extreme Selbstisolation (früh)
- stereotypes Hantieren mit Gegenständen oder dem
eigenen Körper
- weitere Verhaltensweisen:
- Generalisierung (Tee als Synonym für Angst)
- Selbstermahnung
- direktes Wiederholen von Gehörtem
- Man sieht Kindern bis zum 6. Monat nicht an, ob sie autistisch oder
einfach nur sehr ruhig sind.
- Wenn man weiß, wie ein Autist funktioniert, weiß man,
wie man sich ihm gegenüber verhalten muss.
- Jeder hat Veränderungsangst. Sie hängt von den
Erfahrungen ab, die der Mensch gemacht hat. Bei Autisten geschieht
das nur auf einem anderen Niveau.
- Beispiel: ein Autist braucht immer den selben
Frühstücksteller, und ein bestimmter Kratzer muss immer an
der selben Stelle auf diesem Teller sein, sonst erkennt der
Autist das Frühstück nicht als Frühstück.
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- Margit Mahler geht traditionell von passiven Säuglingen
aus.
- Der Mensch macht einen Großteil seiner Erfahrungen
außerhalb des Bauchs der Mutter. Affen hingegen machen einen
Großteil ihrer Erfahrungen innerhalb des selben. Ein
menschliches Kind ist erst 9 Monate nach der Geburt so
reif wie viele Tiere zum Zeitpunkt der Geburt.
- Zu Anfang ist die komplette Wahrnehmung bei einem
Säugling "ich". Er lernt jedoch, dass es sich
gibt und eine Außenwelt. Zu Anfang kann ein Kind das nicht
differenzieren. Ab dem 2. Monat beginnt ein Kind die Mutter als
"nicht-ich"wahrzunehmen. Ab dem 3. Monat sollte dem Kind geholfen werden, sich
von der Mutter zu lösen. Mit 5 Monaten weiß das Kind, wie die Mutter aussieht und
zeigt eine spezifische Lächelreaktion. Die Betreuung des
Kindes wird nun schwerer, da das Kind die Mutter erkennt und
vermisst. Das Kind hat Erfahrungen und Vorlieben, es will von
einer bestimmten Person betreut werden. 8-Monats-Krise: Das Kind hat Angst, dass die Mutter
weg geht, muss allerdings lernen allein zu sein. Das Loslösen
von der Mutter ist sehr wichtig (Differenzierungsphase). Das
Kind merkt plötzlich, dass die Mutter weg ist und erschrickt.
- Die Zuwendung zur Welt ist wichtig!
- Ein Gemeinschaftswesen ist gleichzeitig Individualwesen
und umgekehrt.
- Unser körperliches Wahrnehmungsgefühl ist angelernt und kann verloren
gehen.
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- Idee: Lernen findet nach Erfolg statt.
- Ein Lebewesen verhält sich in einer bestimmten Form.
Wenn es damit erfolgreich ist, verhält es sich wieder so, wenn nicht,
dann ändert es seine Verhaltensweise. Man kann gewünschtes Verhalten aufbauen
und nicht erwünschtes Verhalten verhindern - durch Erfahrungsaufbau.
- Verhalten - keine Reaktion auf diesen Verhalten aus der
Umwelt - Lebewesen hört mit dem Verhalten auf - Löschen
- Verhalten - Reaktion aus der Umwelt erfolgt - positiv -
Verhalten wird verstärkt (Belohnung)
- Verhalten - Reaktion aus der Umwelt erfolgt - negativ - Verhalten
wird weniger (Strafe)
- Verhalten - Reaktion aus der Umwelt erfolgt - negativ -
es bleibt bestehen, wenn es von außen negativ gesehen wird,
aber für die Person an sich positiv ist - Belohnung.
- Wenn jemand positiv keine Aufmerksamkeit bekommt, dann
versucht er diese auf negative Weise auf sich zu ziehen.
Kinder mögen oft denjenigen am meisten, den sie am häufigsten
ärgern. Das sind Liebesbeweise mit falschen Mitteln.
- Man sollte nicht reagieren, wenn man eine bestimmte Verhaltensweise
verändern will, damit das Kind damit aufhört. Versuchen, positive Verhaltensweisen zu
verstärken.
- Nicht jede Methode ist für jedes Kind geeignet. Die Methode wird vor
allem durch den Therapeuten selektiert. Man kann nicht generell sagen, wie man sich verhalten
soll - das muss jeder für sich herausfinden.
- Die potentiellen Möglichkeiten eines Menschen sind in
seiner DNA festgelegt, er kann aber trotzdem unterschiedlich
auf seine Umwelt reagieren. Ein Mix aus Umwelt und Genen bestimmt das
Verhalten und die Entwicklung eines Menschen.
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Professor Rödler zeigt einen Film des Max-Planck-Instituts aus den
70er Jahren. Es werden Ausschnitte aus den Therapiesitzungen eines
autistischen Jungen gezeigt.
- Sprachtraining, Worterkennung, Körperkontakt-Training, Training von Zweiwortsätzen
- Die Therapiesitzung wirkt auf den ersten Blick wie eine
Zirkusdressur. Der Therapeut folgt strikt seinem Plan ohne auf
die Bedürfnisse des Kindes und die Kompetenz des Kindes
einzugehen.
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Was ist der Mensch, wenn die Gattung Mensch Autisten hervorbringt?
- Der Mensch ist eine physiologische Frühgeburt. Er wird
sehr früh Soziologie und Kultur ausgesetzt.
- Der Mensch ist im Gegensatz zu Tieren unbestimmt - Tiere
können aus ihrer Bestimmung nicht heraus.
- Menschen haben keinen vorbestimmten Platz in der Welt.
Dieser wird individuell gestaltet. Wir bestimmen selbst
unseren Weg. Alles ist möglich. Er wird allerdings auch stark
von unserer Umwelt und Kultur geprägt. Unsere Kultur ist ein Hilfesystem,
das uns Orientierung gibt. Eine ergänzende Hilfe, die uns die Instinkte ersetzt.
- Autisten schaffen es nicht, die Einflüsse und die
Vielfalt der Welt zu verarbeiten. Unbestimmtheit schafft
Vielfalt und Individualität. Wenn das scheitert entstehen
autistische Verhaltensweisen.
- Was passiert, wenn es nicht zu einer individuellen
Weltgestaltung kommt? Autistische Verhaltensweisen treten auf,
wenn man es nicht schafft, die Welt zu verarbeiten.
- Unbestimmtheit ermöglicht es uns, Kultur zu
entwickeln - sie macht es aber auch möglich, Autisten zu
entwickeln. Genau das, was Menschen hervorbringt, erzeugt
autistisches Verhalten.
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Professor Rödler zeigt einige Kippbilder und erläutert deren
Funktionsweise und unsere Reaktion auf diese Bilder.
- Reizüberflutung ist eigentlich eine Reizdeprivation, da nichts verwertet werden kann
- Der Mensch erhält eine Milliarde Reize pro Sekunde. Nur
16 bis 18 Informationen können verarbeitet werden. Teilweise
trifft das Gehirn eine zufällige Auswahl. Eine gezielte
Auswahl der Informationen ist aber besser. Am besten ist eine Bildung von Ordnungen.
- Wir können nichts wahrnehmen, was wir nicht kennen.
Alles Neue ist eine Variante von etwas Bekanntem. Kurzzeit-
und Langzeitgedächtnis stehen beim Vergleich zur Verfügung.
- Ein bestimmtes Auto wird von uns erst wahrgenommen, wenn
wir uns dafür interessieren, z.B. aufgrund von Werbung oder
durch ein Kaufvorhaben. Motive, die wir haben, prägen unsere
Welt.
- Unser normaler Blick ist immer etwas von oben nach unten
gerichtet. Hindernisse sind meistens unten, daher achten wir
mehr darauf. Unsere Hände sind nach unten gerichtet. Wenn
etwas herunterfällt, wird es mit den Augen wahrgenommen.
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FAQ zum Autismus
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Grundüberlegungen zum Umgang mit autistischen Verhaltensweisen
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Grundlagen zum Verständnis autistischer Verhaltensweisen
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Zu Krise und Pubertät beim Autismus
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Reprint eines Readers zum Autismus
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PowerPoint Folien Superzeichenbildung
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PowerPoint Folien Kippbilder
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Georg Feuser: Autismus eine Herausforderung des Mitmensch-Seins
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